Christoph Martin W i e l a n d (1733 - 1813)
Sechs Fragen zur Aufklärung
1. Was ist Aufklärung? - (Reclam Nr. 9714)
Das weiß jedermann, der vermittelst eines Paar sehender Augen erkennen gelernt hat, worin der Unterschied zwischen Hell und Dunkel, Licht und Finsternis besteht. Im Dunkeln sieht man entweder gar nichts oder wenigstens nicht so klar, daß man die Gegenstände recht erkennen und von einander unterscheiden kann; sobald Licht gebracht wird, klären sich die Sachen auf, werden sichtbar und können von einander unterschieden werden. - Doch wird dazu zweierlei notwendig erfordert: l. daß Licht genug vorhanden sei, und 2. daß diejenigen, welche dabei sehen wollen, weder blind noch gelb- oder schwarzsüchtig seien, noch durch irgendeine andere Ursache verhindert werden, sehen zu können oder sehen zu wollen.
2. Über welche Gegenstände k a n n und m u ß sich Aufklärung ausbreiten?
Im Dunkeln (ein einziges löbliches und gemeinnütziges Geschäft ausgenommen) bleibt für ehrliche Leute nichts zu tun als zu schlafen. Im Dunkeln läuft man Gefahr, bei jedem Schritt die Nase anzustoßen, bei jeder Bewegung etwas umzuwerfen, zu beschädigen oder anzurühren, was man nicht anrühren sollte, kurz, alle Augenblicke Mißgriffe und Mißtritte zu tun.
Die Anwendung der Aufklärung ist kinderleicht. Das Licht des Geistes, wovon hier die Rede ist, ist die Erkenntnis des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen. Hoffentlich wird jedermann zugeben, daß es ohne diese Erkenntnis ebenso unmöglich ist, die Geschäfte des Geistes recht zu treiben, als es ohne materielles Licht möglich ist, materielle Geschäfte recht zu tun. Die Aufklärung, so viel Erkenntnis, als nötig ist, um das Wahre und Falsche immer und überall unterscheiden zu können, muß sich also über alle Gegenstände ohne Ausnahme ausbreiten, worüber sie sich ausbreiten kann. Aber es gibt Leute, die in ihrem Werk gestört werden, so bald Licht kommt: e s gibt Leute, die ihr Werk unmöglich anders als im Finstern, oder wenigstens in der Dämmerung, treiben können; z B., wer uns Schwarz für Weiß geben oder mit falscher Münze bezahlen oder Geister erscheinen lassen will; oder auch, wer gerne Grillen fängt, Luftschlösser baut und Reisen ins Schlaraffenland oder in die glücklichen Inseln macht, der kann das natürlicherweise bei hellem Sonnenschein nicht so gut bewerkstelligen als bei Nacht und Mondschein. Alle diese wackern Leute sind also natürlich Gegner der Aufklärung, und nun nimmer mehr werden sie sich überzeugen lassen, daß das Licht über alle Gegenstände verbreitet werden müsse, die dadurch sichtbar werden können. .
Wo, bei allem möglichen Licht, nichts mehr zu sehen ist.
4. Durch welche sicheren Mittel wird die Aufklärung befördert?
Das unfehlbarste Mittel, daß es heller wird, ist, das Licht zu vermehren, die dunklen Körper, die ihm den Durchgang verwehren, soviel wie möglich, wegzuschaffen und besonders alle finsteren Winkel und Höhlen sorgfä1lig zu beleuchten, in welchen das Licht scheue Völkchen sein Wesen treibt.
Alle Gegenstände unserer Erkenntnis sind entweder geschehene Dinge oder Vorstellungen, Begriffe, Urteile und Meinungen: Geschehende Dinge werden aufgeklärt, wenn man bis zur Befriedigung eines jeden unparteiischen Forschers untersucht, ob und wie sie geschehen sind. Die Vorstellungen, Begriffe, Urteile und Meinungen der Menschen werden aufgeklärt, wenn das Wahre vom Falschen daran abgesondert, das Verwickelte entwickelt, das Zusammengesetzte in seine einfachen Bestandteile aufgelöst, das Einfache bis zu seinem Ursprung verfolgt und überhaupt keiner Vorstellung oder Behauptung, die jemals von Menschen für Wahrheit ausgegeben worden ist, ein Freibrief gegen die uneingeschränkte Untersuchung gestattet wird. Es gibt kein anderes Mittel, die Masse der Irrtümer und schädlichen Täuschungen, die den menschlichen Verstand verfinstern, zu vermindern als dieses, und es kann kein anderes geben. Niemand kann etwas dabei zu befürchten haben, wenn es heller in den Köpfen der Menschen wird - als diejenigen, deren Interesse es ist, daß es dunkel darin sei und bleibe.
Sie werden auch künftig, wie bisher, ihr möglichstes tun, alle Öffnungen, Fenster und Ritzen, wodurch Licht in die Welt kommen kann, zu verbauen, zu vernageln und zuzustopfen; werden nicht ermangeln, uns andere, die wir uns zu unserem und anderer Leute notdürftigem Gebrauch mit etwas Licht versehen, die Laternen zu zerschlagen, sobald sie die stärkeren sind, und wo sie das nicht sind, alle nur erdenkbaren Mittel anwenden, die Aufklärung wenigstens in ein böses Geschrei zu bringen. Ich denke nicht gern Arges von meinen Mitmenschen, aber ich muß gestehen, die Sicherheit der Aufklärungsmittel, die unserem Frager so sehr am Herzen liegt, könnte mir seine Lauterkeit wider Willen verdächtig machen.
Aber er wird vielleicht sagen, es gebe Fälle, wo zuviel Licht schädlich sei. wo man es nur mit Behutsamkeit und stufenweise einfallen lassen dürfe - Es wäre Spott und Schande, wenn wir, nachdem wir schon dreihundert Jahre lang nach und nach einen gewissen Grad von Licht gewohnt worden sind, nicht einmal endlich imstande sein sollten, hellen Sonnenschein ertragen zu können. Es greift sich mit Händen, daß das bloß Ausflüchte der lieben Leute sind,
die ihre eigenen Ursachen haben, warum es nicht hell um sie sein soll.
5. Wer ist berechtigt, die Menschheit aufzuklären?
Wer es kann! - "Aber wer kann es?" Ich antworte mit einer Gegenfrage, wer kann es nicht? Und weil kein menschliches Tribunal berechtigt ist, sich eine Entscheidung anzumaßen, wodurch es von seiner Willkür abhinge, uns so viel oder wenig Licht zukommen zu lassen, als ihm beliebte: so wird es wohl dabei bleiben müssen, daß jedermann – von Sokrates oder Kant bis zum obskursten aller übernatürlich erleuchteten Schneider und Schuster, ohne Ausnahme, berechtigt ist, die Menschheit aufzuklären, wie er kann, sobald ihn sein guter oder böser Geist dazu treibt. Man wird finden, daß die menschliche Gesellschaft bei dieser Freiheit unendlich weniger gefährdet ist, als wenn die Beleuchtung der Köpfe und des Tun und Lassens der Menschen als Monopol oder ausschließliche Innungssache behandelt wird. Nur eine Einschränkung: nämlich das sehr weise Strafgesetz, der alten Kaisers gegen die heimlichen Konventikel und geheimen Verbrüderungen zu erneuern, und demzufolge allen, die nicht berufen sind, auf Kanzeln und Kathedern zu lehren, kein anderes Mittel zur beliebigen Aufklärung der Menschheit zu gestatten als die Buchdruckerpresse. Ein Narr, der in seinem Konventikel Unsinn predigt, kann in der bürgerlichen Gesellschaft Unheil anrichten; ein Buch hingegen, was auch sein Inhalt sein mag, kann heutzutage keinen Schaden tun, der entweder der Rede wert wäre oder nicht gar bald zehnfaltig und hundertfältig durch andere vergütet würde.
6. An welchen Folgen erkennt man die Wahrheit der Aufklärung?
Wenn es im Ganzen heller wird, wenn die Anzahl der denkenden, forschenden, lichtbegierigen Leute überhaupt immer größer wird, die Masse der Vorurteile und Wahnbegriffe zusehends immer kleiner wird, wenn die Scham vor Unwissenheit und Unvernunft, die Begierde nach nützlichen und edlen Erkenntnissen und besonders, wenn der Respekt vor der menschlichen Natur und ihren Rechten unter allen Standen zunimmt!
Helfen auch SIE mit, im Sinne Wielands die Bevölkerung über Probleme aufzuklären, die JEDEN angehen!
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