Freitag, 5. November 2010

Günter Wallraff, der Geheimagent.

(Aus den Nachbetrachtungen seines neuen Buches „Aus der schönen neuen Welt“)
Als ich mich vor drei Jahren entschied, mich erneut in die Rolle von Menschen zu begeben, die in dieser "schönen neuen Welt" ganz offensichtlich zu den Verlierern gehören, ahnte ich nicht, was da alles auf mich zukommen würde. Weder hielt ich es für möglich, dass man Obdachlose, unter denen ich eine Zeit lang lebte, bei minus 15 Grad einfach sich selbst überlässt; ich hielt es auch nicht für möglich, dass Großunternehmen die Arbeitsbedingungen in Zulieferbetrieben bereits wieder auf ein frühkapitalistisches Niveau abgesenkt haben, als habe es die Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung und ihre Erfolge nie gegeben. Die Ungerechtigkeit hat zugenommen. Mit der neuen Schutzlosigkeit geht die Schamlosigkeit einher, mit der sich Spitzenmanager und Expolitiker bereichern.
Dieser Schicht geht es allein um ihr eigenes Wohl, um die optimale Versorgung mit Kapital- und Geldeinkünften und Steuerprivilegien. Diese wahrhaft asoziale "Parallelgesellschaft" der Schamlosen und Unverschämten geriert sich öffentlich als Gewinner, während Millionen Deklassierter meinen, sich für ihre unverschuldete Armut schämen zu müssen.
Mittlerweile arbeitet fast jeder vierte Beschäftigte für einen Niedriglohn, die Zahl der Leiharbeiter schnellt nach oben, ihre Arbeitsbedingungen gehören im westeuropäischen Vergleich zu den schlechtesten. Auch dank Wolfgang Clement, Wirtschafts- und Arbeitsminister unter Gerhard Schröder, zuständig für die entsprechenden Gesetze im Interesse der Leiharbeitsfirmen, der später zu einem hoch dotierten Beraterposten wechselte.
Michael Rogowski hat schon 2004 als Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie festgestellt: Wir brauchen auf keinen Fall Mindestlöhne. Im Gegenteil, wir müssen die tariflichen Untergrenzen durchbrechen. Der so genannte Chefvolkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, frohlockte 2008 mitten in der Krise: "Manche von uns werden sich darauf einstellen müssen, künftig einen Lohn zu bekommen, der in Deutschland zum Überleben nicht reicht." Die rabiaten Vertreter der Armutspolitik verlieren jede Beißhemmung, wofür auch die von skrupellosen Rechtsanwälten beratenen Firmen ein erschreckende Beispiele sind.
Die Agenda 2010, Hartz IV, Eineurojobber, 400-Euro-Jobs, unbezahlte Dauerpraktika, die Zerstörung gesicherter und langfristiger Arbeitsverhältnisse bei gleichzeitiger Zunahme prekärer Beschäftigungsformen, die Unterhöhlung des öffentlichen Rentensystems – die Politik hat die Vorschläge der Wirtschaft l : l umgesetzt. Und obwohl die Folgen brutal zutage treten: wachsende Kinderarmut, höhere Bildungshürden, mehr Menschen ohne Kranken- und Rentenversicherungen, dauerhafte Abkoppelung der unteren Schichten von kultureller und sozialer Teilhabe, Altersarmut - bis heute wird von den so genannten Volksparteien an der neoliberalen Politik und des sozialen Kahlschlags nicht gerüttelt. Solidarische Werte und das kritische Hinterfragen und Nachdenken werden mit Argwohn betrachtet, wenn nicht diffamiert. "Zur Realität gibt es keine Alternative, basta." Deshalb hat es mich bei meinen Reisen in die deutsche Befindlichkeit immer wieder ermutigt, wenn ich auf Menschen traf, die die Hoffnung auf eine bessere Welt nicht verloren haben und auch nicht den Mut, dafür Einzustehen. Aber angesichts der Tatsache, dass heute immer mehr Menschen fürchten müssen, "ganz unten" zu landen, sind es noch viel zu wenige.

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