Dienstag, 30. November 2010

LEW TOLSTOI

1828 als Sohn eines russischen Grafen auf dem Gut Jasnaja Poljana geboren, 1879 - 1882 Tolstoi sagt sich von der orthodoxen Kirche, von seinem bisherigen Leben und von seiner Klasse los, geht auf die Position der patriarchalischen Bauernschaft über und predigt ein "wahres", sittliches Christentum.
1910, mach heimlicher Flucht aus Jasnaja Poljana nach kurzer Krankheit gestorben.

AUS TOLSTOIS BRIEF VOM 7.9.1910, KURZ VOR SEINEM TODE, AN GANDHI:
Je länger ich lebe - und besonders jetzt, da ich den - Tod deutlich herannahen fühle -, desto stärker drängt es mich, auszusprechen, was ich vor allem ändern lebhaft empfinde und was meiner Meinung  nach von ungeheurer Wichtigkeit ist: es handelt sich darum, was man den VERZICHT AUF ALLEN WIDERSTAND DURCH GEWALT heißt, worin sich aber letzten Endes nichts anderes ausdrückt, als die durch Truggespinste noch nicht entstellte Lehre vom Gesetz der Liebe. Die Liebe, mit anderen Worten das Streben der Menschenseele nach Vereinigung und ihrem daraus sich ergebenden Verhalten untereinander, sie stellt das höchste und einzige Gesetz des Lebens dar - das weiß und fühlt ein jeder in der Tiefe seines Herzens (wie wir es am deutlichsten an den Kindern sehen); er weiß es, solange er nicht in die Lügennetze weltlichen Denkens verstrickt ist. Dieses Gesetz ist von allen Weltweisen, den indischen sowohl wie den chinesischen und jüdischen, den griechischen und römischen, verkündet worden. Am klarsten ist «s, glaube ich, von Christus ausgesprochen, der geradezu sagte, daß darin alles Gesetz und die Propheten enthalten seien...

Der Unterschied zwischen den christlichen und allen anderen Nationen bestand nur darin, daß im Christentum das Gesetz der Liebe so klar und bestimmt gegeben war wie in keiner anderen Religion und daß seine Anhänger sich freilich dazu bekannten, trotz allem aber Gewaltanwendung für zulässig erachteten und ihr Leben auf Vergewaltigung gründeten; daher ist das Leben der christlichen Nationen ein einziger großer Widerspruch zwischen dem, was sie bekennen, und dem, worauf sie ihr Dasein aufbauen: ein Widerspruch zwischen der Liebe, die das Gesetz des Handelns vorschreiben soll, und der Vergewaltigung, die unter verschiedenen Formen anerkannt wird, als da sind: Regierungen, Gerichte und Militär, die als notwendig hingestellt und gepriesen werden. Dieser Widerspruch verschärft sich mit der Entwicklung des geistigen Lebens der Christenheit, und es ist in der letzten Zeit zur höchsten Spannung gediehen:
Die Frage steht jetzt so: eins von beiden müssen wir wählen: entweder zugeben, daß wir überhaupt keine religiöse Sittenlehre anerkennen und uns nur vom Recht des Stärkeren in unserer Lebensführung bestimmen lassen, oder fordern, daß alles zwangsweise Erheben von Abgaben eingestellt, all unsere gerichtlichen und polizeilichen Institutionen und vor allem das Militär aufgehoben werden.
In diesem Frühjahr prüften beim Religionsexamen an einem Töchterinstitut Moskaus zuerst der Religionslehrer und dann der gleichfalls anwesende Erzbischof die Mädchen über die zehn Gebote und im Besonderen über das fünfte. Auf das richtige Hersagen hin stellte der Erzbischof jeweils meist noch die Frage: ist Töten immer und in allen Fällen durch das Gesetz Gottes verboten? Und die unglücklichen, durch ihre Lehrer verdorbenen Mädchen mußten antworten und antworteten auch: nicht immer, denn im Kriege und bei Hinrichtungen darf getötet werden. Als aber einem dieser unglücklichen Geschöpfe (was ich erzähle, ist keine Anekdote, sondern tatsächlich passiert und mir von einem Augenzeuge berichtet) die übliche Zusatzfrage gestellt wurde, ob denn das Töten immer Sünde sei, da wurde das Mädchen rot und entgegnete erregt und entschieden: "Ja, immer!" Und auf all die herkömmlichen Sophismen des Erzbischofs blieb es unerschütterlich dabei: Töten sei unter allen Umständen untersagt, auch schon im Alten Testament, Christus aber habe nicht nur zu töten verboten, sondern überhaupt dem Nächsten Böses zu tun. Der Erzbischof in all seiner Majestät und Redegewandtheit verstummte, und das Mädchen behielt den Sieg....
Sozialismus, Kommunismus, Anarchismus, Heilsarmee, Zunahme von Verbrechen, Arbeitslosigkeit, der wachsende widersinnige Luxus der Reichen und die Verelendung der Armen, das furchtbare Anschwellen der Selbstmordzahlen, all das sind Merkmale jenes inneren Widerspruches, der gelöst werden muß und gelöst werden wird...
Es wird Sie freuen zu hören, daß auch bei uns in Rußland eine solche Agitation schnell um sich greift, daß die Weigerung, Militärdienst zu leisten, sich von Jahr zu Jahr mehrt...
In dem Bekenntnis zum Christentum, wenn auch nur zu einem derart entstellten Christentum, wie es bei uns gelehrt wird, und in dem Glauben zugleich an die Notwendigkeit von Heeren und ihrer Ausrüstung zu Schlächtereien allergrößten Maßstabes, darin liegt ein solch offenbarer, himmelschreiender Widerspruch, daß er über kurz oder lang, wahrscheinlich aber sehr bald, in voller Nacktheit zutage treten muß; das aber wird entweder die christliche Religion vernichten, die zur Aufrechterhaltung der Staatsgewalt nicht zu entbehren ist, oder es wird das Militär und alle damit verbundene Gewaltanwendung, die der Staat nicht weniger benötigt, hinwegfegen. Diesen Widerspruch empfinden alle Regierungen, Ihre britische eben sowohl wie unsere russische, und daher wird die Erkenntnis dieses Widerspruchs von den Regierungen aus Selbsterhaltungstrieb energischer verfolgt als jede andere staatsfeindliche Tätigkeit, wie wir es in Rußland erlebt haben und wie es aus den Aufsätzen Ihrer Zeitschrift hervorgeht: die Regierungen wisssen, woher ihnen die größte Gefahr droht, und wahren mit wachsamem Auge in dieser Hinsicht nicht mehr bloß ihre Interessen, sondern kämpfen hier geradezu um ihr Sein oder Nichtsein.
Mit vorzüglicher Hochachtung Lew Tolstoi
Unser größter Feind? UNWISSENHEIT!
HELFT AUFKLÄREN! Material liefert
Init. II. Aufklärung - Soz. Humanismus
(03946/52024 - Anruf genügt

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen