Montag, 9. Januar 2012

Bertrand Russell, Großbritannien (Aus „Moral und Politik“ S.185)

Einer Theorie zufolge, die in der Welt immer mehr Anklang findet, sind die Übel, woran die Völker kranken, auf das Schwinden des religiösen Glaubens zurückzuführen. Ich halte das Gegenteil dieser Theorie für richtig.
Im Jahre 1914 glaubten sich die Deutschen stark genug, sich gewaltsam ein Reich zu schaffen, das sich mit dem britischen, französischen u. russischen messen konnte. England. Frankreich und Russland schlossen sich zusammen, um diese Ambitionen zu vereiteln. Russland wurde geschlagen und gab in der Revolution 1917 seine traditionelle imperialistische Politik auf. Die Ursache des Konflikts war die Kollision der machtpolitischen Bestrebungen. Im Grunde ist Krieg kein Aufeinanderprallen von Glauben und Unglauben oder von zwei verschiedenen Glauben. Es war der Widerstreit zweier mächtiger Reiche,  die beide  eine  Chance  zu  sehen glaubten, die  Weltherrschaft  an sich zu reißen.  Kein  Mensch kann behaupten, der  1.Weltkrieg  sei mehr oder  minder darauf  zurückzuführen, dass es den Herrschenden, die ihn anzettelten, an christlichem Glauben gefehlt habe. Der Zar, der deutsche Kaiser und der Kaiser von Österreich  waren  alle ernsthafte Christen, auch Sir Edward Grey und Präsident Willson. Nichtchristlich  war damals  nur  ein  einziger prominenter Politiker, der Sozialist Jean Jaures, der den Krieg bekämpfte und zur Genugtuung fast aller christlichen Franzosen ermordet wurde. In England waren  John Burns und der alte, als Atheist bekannte  Lord Morley die einzigen  Kabinettsmitglieder,  die zurücktraten, weil sie  den  Krieg missbilligten. In Deutschland  ging  ebenfalls  die  einzige Opposition  von den Atheisten unter der Führung von Karl Liebknecht aus. Als in Russland die Atheisten ans Ruder kamen, war es ihr erstes, Frieden zu schließen.
Die Bolschewisten blieben freilich nicht friedlich, was aber nicht weiter verwunderlich war angesichts der Tatsache, dass sie von allen christlichen Siegermächten angefeindet wurden. Die Christen sind der Überzeugung, der Glaube wirke Gutes, jeder andere Glaube dagegen schade. Jedenfalls tut das nach ihrer Ansicht der kommunistische Glaube.
Ich persönlich möchte sagen: Jeder Glaube schadet. Wir können den „Glauben“ definieren als sicheres Überzeugtsein von etwas, wofür es keine Gewissheit gibt. 
Von Glauben sprechen wir nur, wenn wir die Gewissheit durch das Gefühl ersetzen wollen. Die Ersetzung der Gewissheit durch das Gefühl führt leicht zu Auseinandersetzungen, da verschiedene Gruppen unterschiedliche Gefühle als Ersatz nehmen.
Die Christen glauben an die Auferstehung,  die  Kommunisten  an  die  marxistische Wertetheorie. Keiner der beiden Glauben lässt sich  mit  Vernunft  begründen, folglich wird jeder durch Propaganda und nötigenfalls  mit  Krieg verteidigt.
In dieser Beziehung sind beide gleich. Wo man die Macht in Händen hält, bringt man dieses Etwas dem unreifen Geist der Kinder bei und verbrennt oder verbietet Bücher, die das Gegenteil lehren. Wo man nicht die Macht hat, wird man bewaffnete Streitkräfte zu Eroberungszwecken aufstellen.  Das  alles  ist die unvermeidliche Folge eines festen Glaubens, es sei denn,  man  begnügt  sich wie die Quäker  damit, stets in einer winzigen Minderheit zu sein.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen