Mittwoch, 11. Januar 2012

Bertrand Russell VERNUNFT UND GEFÜHL

Jedesmal, wenn ich sittliche Urteile über politische Probleme äußere, wird mir von der Kritik vorgehalten, ich sei nicht dazu befugt, da ich nicht an die Objektivität sittlicher Urteile glaubte. Ich halte diesen Vorwurf für unbegründet. Das Wort VERNUNFT hat einen ganz klaren, präzisen Sinn. „VERNUNFT“ bedeutet WAHL DER RICHTIGEN MITTEL ZU EINEM ERWÜNSCHTEN ZWECK.
Die Verächter der Vernunft glauben, die Sachwalter der Vernunft wollten die Zwecke genauso wie ihre Mittel von ihr diktiert wissen. Den Schriften der Rationalisten können sie eine Rechtfertigung dieser Ansicht nicht entnehmen. David Hume sagte: „Die Vernunft ist die Sklavin der Leidenschaften, und nur das soll sie sein“ Darin prägt sich eine Anschauung aus, die ich wie jeder vernünftig denken wollende Mensch voll unterschreiben. Wenn ich häufig zu hören bekomme, ich legte der Rolle, welche die Gefühle in menschlichen Dingen spielte, so gut wie gar keine Bedeutung bei, so würde es mich interessieren, was ich nach Ansicht meiner Kritiker als maßgebliche Triebfeder ansehe. WÜNSCHE, GEFÜHLE, LEIDENSCHAFTEN sind die einzig möglichen URSACHEN DES HANDELNS. DIE VERNUNFT IST NICHT URSACHE, SONDERN REGULATOR DES HANDELNS.
Einer  meiner  Kritiker nimmt  mich  ins  Gebet. Weil ich sage, nur schlechte Leidenschaften vereitelte die Verwirklichung einer besseren Welt. Triumphierend fragt er:„Sind alle menschlichen Gefühle unbedingt schlecht? Ich sage, was der Welt Not täte, sei christliche Liebe oder Mitleid. Das ist doch gewiss ein Gefühl.
Wenn ich behaupte, dieses brauche die Welt, so gebe ich damit nicht zu verstehen, dass die Vernunft die treibende Kraft sei. Ich kann nur annehmen, dass dieses Gefühl für die Apostel der Unvernunft keinen Reiz hat, weil es weder grausam noch zerstörerisch ist. Es gibt mancherlei Gründe, aus denen Menschen die Vernunft hassen können. Man kann Wünsche haben, die nicht mit einander vereinbar sind, und nicht sehen wollen, dass sie einander wider-
sprechen. Sie können den Wunsch haben, mehr auszugeben, als sie einnehmen, und doch zahlungsfähig bleiben wollen. Und das kann die Veranlassung werden, ihre Freunde zu hassen, wenn sie ihnen mit nüchternen Zahlen kommen.
Die Liebe zur Unvernunft kann auch einen anderen, verhängnisvolleren Beweggrund haben. Wenn Menschen unvernünftig genug sind, kann man sie für die eigenen Zwecke einspannen, wenn man in ihnen die Überzeugung erweckt hat, sie nützten damit ihren Interessen. Dieser Fall ist in der Religion sehr häufig. Die meisten Politiker kommen zu ihrer Führungsstelle, weil sie den Leuten weismachen, sie seien von uneigennützigen Wünschen beseelt. Begreiflicherweise setzt sich ein solcher Glaube leichter durch, wenn die Menschen sich in einem Erregungszustand befinden. Mit Blechmusik, Volksreden, Lynchjustiz und Krieg lässt die Erregung sich wirksam steigern. Vermutlich sind die Vorkämpfer der Unvernunft der Meinung, sie hätten eine größere Chance zu nutzbringender Täuschung des Volkes, wenn sie die Volksseele dauernd im Kochen hielten. Vielleicht ist es meine Abneigung gegen diese Methoden, welche Leute zu der Behauptung veranlasst, ich sei übertrieben vernünftig.
Schließlich gibt es noch einen Grund, weswegen sich die Menschen gegen das sträuben, was sie sich unter Vernunft vorstellen. Sie halten starke Gefühle für etwas Erstrebenswertes, aber glauben, wer von einem starken Gefühl durchdrungen sei, könne infolgedessen nicht vernünftig sein.
Doch stark empfindende Personen müssen nicht den Kopf verlieren und sich töricht gebärden. Es gibt Menschen mit glühender Leidenschaft wie z. B. den Grafen Monte Christo, die sie schnurstracks zu den richtigen Mitteln greifen lassen.
In einer Welt, wie ich sie mir wünschte, würden die Gefühle stark, aber nicht zerstörend sein, und da sie anerkannt würden, hätten sie weder Selbsttäuschung noch die Täuschung anderer zur Folge. Auch Liebe und Freundschaft wären in dieser Welt zu Hause und das Streben nach Kunst und Wissenschaft.

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